KAPITEL 3

Die Zukunft leuchtet- oder: Am Puls einer neuen Zeit

Kommerzielles Kalkül war es allerdings nicht, was die Band bei diesem Album angetrieben hatte. Es war vielmehr die unbeschwerte Freude am Spielen und Experimentieren. Sie waren auf der Suche nach ihrem eigenen Weg und zeigten auf Strangers In The Monkey Biz, dass sie mehr als eine Stilart, mehr als eine Richtung konnten. Welche Richtung sollten sie aber einschlagen, welchen Weg sollten sie gehen? Und in der Tat standen Marquee Moon mit diesem Album am Scheideweg. Jedoch nicht am Scheideweg zwischen Kommerz oder Independent, sondern zuvörderst zwischen neopsychedelischem Indie-Rock oder DarkWave.


Zu diesem Zeitpunkt schien die Band den Weg des Indie-Rock mit großen Schritten in Richtung Pop weitergehen zu wollen. In einem aufschlussreichen Interview mit der Hamburger Musikzeitschrift Go for Gold sprechen die vier Tonkünstler bereits Mitte des Jahres 1986 davon, dass sie momentan dabei seien sich „zu verPOPen“ (Sabothe) und versuchen würden sich „grundsätzlich von jeglichen Einflüssen zu befreien“. (Nischwitz)(52) Sie wollten sich nicht mehr durch irgendwelche Konventionen einengen lassen, sie wollten Grenzen überschreiten.

Marquee Moon - Aushängeschild der deutschen Untergrundbewegung
Marquee Moon: Nigel, Humphy, Hanzy, Tom
Skid Byers fotografiert Marquee Moon
Skid Byers fotografiert Marquee Moon

Deshalb kündigte Skid Byers kurze Zeit später in einer Presseerklärung an, dass die Band die Absicht habe, sich künftig auch outfitmäßig verändern zu wollen. In diesem Zusammenhang schrieb die Berliner Morgenpost ein Jahr später, im Juni 1987, anlässlich eines Konzerts im Berliner Quartier Latin folgendes: „Marquee Moon hat über die Jah­re viele Verwandlungen durchge­macht. Von der Sixties-Gruppe über Katakomben-Punk haben sie jetzt zu einem frisch-bunten Rock gefunden, bei dem neben der Mu­sik auch das Aussehen eine wichti­ge Rolle zu spielen scheint. Die Band hat sich hörbar gefestigt und an Format gewonnen. Diese Gruppe gehört mit zur Cre­me der Stadt. Der Jubel im dicht gefüllten Quartier Latin war ent­sprechend lautstark.“ (53) Die Band war ja bislang nicht unschuldig daran, dass sie immer wieder dem Dark Wave-Genre zugeordnet wurde, obwohl sie sich stets gegen diese Kategorisierung gewehrt hatte. Marquee Moon wollten endlich weg von diesem schwarzen Image und Outfit, welches das Cover ihrer ersten Platte und die Musik dazu geprägt hatte. Sie wollten hin zu einer farblicheren Vielfalt und Unabhängigkeit, insbesondere in ihrer Musik. Die kommende Single Land Of The Lonely sollte dazu den Beweis antreten.

Horrorfilmszenarien mit einem im Beat der 80er gehaltenen Soundtrack
Marquee Moon: Nigel, Hanzy, Humphy, Tom

Land Of The Lonely- oder: Das Lied der unbegrenzten Möglichkeiten.

Die Vielfalt und Experimentierfreudigkeit die auf Strangers In The Monkey Biz sichtbar wurde setzte sich auf der darauf folgenden Single Land Of The Lonely mit der Rückseite Flying Robert aus dem Frühjahr 1987 fort. Diese Single kann als Meilenstein in der Bandgeschichte und als bedeutende Weiterentwicklung eigener Art betrachtet werden und gab zu größten Hoffnungen Anlass. Ein Ohrwurm erster Güte. Bei Land Of The Lonely setzte die Band erstmals, zwar noch sehr sparsam, aber doch effektvoll, sogenannte Samples ein und gab diesem Song damit ein Klangbild, das es vorher noch nicht gegeben hatte. So wurde zum Beispiel ein kleiner Teil des Refrains von Here Today And Gone Tomorrow als Reminiszenz, kurz, aber geschickt mit eingesampelt, um dadurch frecherweise noch einmal auf diesen Gassenhauer hinzuweisen. Das deutete bereits an, welche Möglichkeiten Marquee Moon damit für sich entdeckt hatten. In dieser Art gab es so etwas bisher bei keiner anderen Band.

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Marquee Moon: Nigel, Humphy, Tom, Hanzy

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„Land Of The Lonely“: Bedeutender Schritt nach vorn
Single: Land Of The Lonely

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Marquee Moon - Berlins böse Buben
Marquee Moon

Sie nutzten die Technik des Sampelns nicht nur zur Sound-Erweiterung sondern quasi als zusätzliches Instrument. Das war neu und außergewöhnlich. Voller Begeisterung fingen sie an, mit dieser neuen Studiotechnik zu experimentieren und ihre Musik zu verändern. Und die Chancen, die sich daraus ergaben, waren noch nicht einmal annähernd ausgelotet. Durch Land Of The Lonely betraten Marquee Moon einen vollständig neuen Weg und spielten plötzlich in einer ganz eigenen Liga. Damit waren sie mit einem Mal im Land der unbegrenzten Möglichkeiten. Wunderbare Aussichten taten sich für sie auf. Produziert wurde die Single, so war es auf der Plattenhülle zu lesen, erstmals von Sgt. Skid and his Lovely Hearts Pop Band, das heißt, von ihnen selbst. Mittels dieser Titulierung standen sie mit ihren beginnenden Musikexperimenten in allerbester musikalischer Tradition.

In allerbester musikalischer Tradition
Marquee Moon bei einem Videodreh

Das Jukebox-Hit-Format! Die neue Dimension

Im Presseheft zur Kinks-Tour im Dezember des gleichen Jahres ist über die beabsichtigte neue Richtung der Band, die mit Land Of The Lonely ihre eigentliche Grundlage bekommen sollte, zu lesen: Jenseits amerikanischer und britischer Rocktrends, auf exterritorialem Gebiet, ist es das Ziel von Marquee Moon, neue Innovationen zu vermitteln. Stechende Gitarrenriffs, treibender Drumbeat, Songs im Jukebox-Hit-Format, in einer völlig neuen Definition.“(54)

 

Die Band hatte sich augenscheinlich viel vorgenommen. Dass diese Rechnung aufgehen würde bestätigten bereits die ersten Besprechungen zur neuen Single. Die beiden großen Stadtmagazine Berlins, Tip und Zitty waren sich bereits kurz nach Erscheinen der Platte einig. „Ein bedeutsamer Schritt nach vorn für die Berliner Lokalmatadoren. Land Of The Lonely arbeitet mit scharf stechender Gitarre und knüppelndem Schlagzeug, und die Hookline stimmt auch. Die Rückseite Flying Robert ist elegischer, aber nicht minder kraftvoll. Hard-Rock von Hoodoo Gurus-Format!“ formulierte der Tip.(55)

 

Zitty schlug in dieselbe Kerbe „Trotz ihrer Liebe zur Psychedelia der Sechziger schafft es die Truppe mit ihrer neuen Single Land Of The Lonely, sich aus Trends und Moden auszuklinken und ihre eigene Musik zu machen: Pop, der - würde er aus London kommen - innerhalb kürzester Zeit auch die lokalen Indie-Charts stürmen müßte.“.(56)

Marquee Moon - großartige Entfaltungsmöglichkeiten
Marquee Moon während einer Fernsehaufnahme

Mit Land Of The Lonely gelang der Band das Experiment einer Songgestaltung, nach der andere Bands vergeblich suchten.

Die positive Resonanz auf Land Of The Lonely bestärkte die Band darin, auf dem richtigen Weg zu sein und weiter in diese Richtung gehen zu wollen. Einige dieser neuen Songs im „Jukebox-Hit-Format“ wurden bereits während der Kinks-Tour ausprobiert und anschließend im Studio aufgenommen. Ein paar waren zuvor schon aufgenommen worden. Obwohl die Band von diesem Songmaterial total begeistert war, kam plötzlich unerwartete Besorgnis auf. Der Songschreiber selbst, Nigel Degray, hielt es mit einem Mal für viel zu früh, die Lieder zu veröffentlichen. Degray argwöhnte, das ohne Major-Company die Songs einfach untergehen würden. Er hatte Angst um diese Songs. Er wollte sie nicht einfach so „vergeuden“. Skid Byers allerdings drängte auf die Veröffentlichung.

 

Er beschwor die Band, sich diese einmalige Chance nicht entgehen zu lassen. Er versuchte ihnen klarzumachen, dass es keine andere Band gab, die so etwas machte. Er beschrieb ihnen in den leuchtensden Farben, welche Möglichkeiten sich daraus für sie ergeben würden. Er las ihnen die positiven Kritiken zu Land Of The Lonely vor, die dies bestätigten. Schließlich wußte Skid Byers um die Bedeutung dieser Schlagzeilen, die, wie er sich ausdrückte „aus gutem Grund in den verschiedensten Blättern lettern“. (Beispiel: „An dieser Platte gibt es nichts zu mäkeln“. Journalist und Radio-Moderator Joachim Deicke.) (57) (58) (59)

Marquee Moon-  Innovative, geniale Ideen
Nigel Degray, Hanzy Nischwitz, Tom Petersen, Humphy Sabothe
Skid Byers - Der Kopf hinter der Band
Skid Byers

Und trotzdem, obwohl ihm die Band de facto in allen Punkten Recht gab, blieb insbesondere Nigel Degray skeptisch. Hanzy Nischwitz war anfänglich zwar nicht dessen Meinung, schloß sich Degray aber später an. Beide glaubten, die Zeit wäre noch nicht reif. Sie meinten, gerade weil es so etwas noch nicht gab, würde die Wirkung bei einer, international gesehen relativ unbekannten Band, einfach verpuffen. Sie wollten lieber noch warten, bis die Zeit dafür reif sei. Sie befürchteten, auch die Fans würden diese ungewöhnliche Entwicklung nicht nachvollziehen können und diesen gewagten Schritt der Veränderung nicht mitgehen. Sie hatten eine unbestimmte Angst vor den Konsequenzen. Byers war darüber sehr unglücklich, gab aber schließlich nach. Gleichwohl hatte er bereits einen Plan, wie er die Band vielleicht doch noch umstimmen könnte. Dazu sollte es allerdings nicht mehr kommen. Die Zeit war nicht auf seiner Seite.

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Einige Monate zuvor:

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Die Surprise-Party –oder: Das Secret -Concert 

 

 

Marquee Moon in Action





Zwei Stunden vorher:




   Skid gibt im Fernsehen ein Live-Interview (und verteilt kleine Geschenke).

Immer dabei: Road-Manager "Lux"
Immer dabei: Road-Manager "Lux"
  • Das Secret-Concert im September 1986

Wenn man als Besucher bei dem berühmten Secret-Concert von Marquee Moon im September 1986 dabeisein wollte, mußte man die (zuvor in der Presse und im Rundfunk bekanntgegebene) Telefon-nummer von Skid Byers anrufen und seine Adresse hinterlassen. Dann bekam man einen Auszug aus dem Berliner Stadtplan und ein Rätsel zugeschickt, das man lösen mußte. Erst dann wußte man, wo das Konzert stattfinden sollte. Skid Byers rechnete auf diese Weise mit ungefähr 300 Teilnehmern und dementsprechend suchte er auch den Veranstaltungsort aus.


Am Abend des 6. September 1986 standen allerdings mehr als das Doppelte an Besuchern vor der Tür. Es hatte sich nämlich im Laufe der Zeit herumgesprochen, wo der Auftritt stattfinden würde. Die Betreiber des Clubs ließen noch ca. 100 Personen zusätzlich herein und machten dann dicht. Es wurde verdammt eng. Alle anderen, die keine Einladung hatten, zogen enttäuscht von dannen. Das Konzert wurde für Marquee Moon, im wahrsten Sinne des Wortes, ein voller Erfolg. Das Publikum war restlos begeistert und wollte die Band gar nicht mehr gehen lassen. Erst nach etlichen Zugaben ließ die Menge die Band erschöpft aber glücklich von der Bühne. Dieses Secret- Concert lieferte noch lange Gesprächsstoff in der Berliner Szene. 

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So ähnlich, wie hier ein Beispiel aus der Berliner Tageszeitung BZ, lauteten auch andere Pressemeldungen, die auf das Konzert aufmerksam machten:

 

Die Überraschung gibt's am Telefon

Berlin - Für jede Überraschung gut zeigt sich Berlins Pop-Stern Mar­quee Moon. Das Quartett will das auch unter Be­weis stellen - es lädt zur „Surprise­ Party“ ein, hält den Ort aber geheim. Wer trotz­dem dabei sein möchte: Das Geheimnis wird un­ter 791 .. .. gelüftet.

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Wer waren die Bad Ronnies, die als Vorgruppe beim Secret-Concert auftraten?

Im Vorprogramm trat eine Band auf, die sich The Bad Ronnies nannte. Die Bandmitglieder hatten Ronald-Reagen-Masken auf und niemand wußte, wer sich darunter verbarg. Skid Byers hatte gerade erst ihren Auftritt angesagt, als sie auch schon auf der Bühne standen und zu spielen begannen. Die Band schlug ein wie ein Dampfhammer. Das Publikum johlte vor Begeisterung. Ohne irgendeine Ansage oder Pause zwischen den Liedern spielten sie eine halbe Stunde und verließen dann mit einem Mal, so plötzlich wie sie gekommen waren, die Bühne und tauchten in der Masse unter. Das Publikum rief lange nach Zugaben, aber sie kamen nicht zurück. Bis heute ist nicht bekannt, welche geheimnisvollen Persönlichkeiten sich hinter den Ronald Reagan-Masken verbargen.

 

Wer steckte hinter diesen Masken?
The Bad Ronnies

Die Entdeckung der Zukunft

Die Studioaufnahmen aus dieser Zeit wurden bis heute nicht veröffentlicht. Nur einige davon gab es als schlechte Live-Mitschnitte auf Bootleg-Kassetten. Wer jedoch zum Beispiel den Song Queen Of The Rodeo während der Kinks-Tour gehört hat, weiß, welches hervorragende Songmaterial auf die Musikwelt zugekommen wäre. Bei diesem Song vervollkommneten Marquee Moon die bereits auf der letzten Single eingesetzte Sampletechnik. Die Band experimentierte einfach munter darauf los. Sie hatten großen Spaß an dieser Arbeit und niemand dachte zu diesem Zeitpunkt an irgendwelche Konsequenzen. Die Band freute sich einfach darüber, dass sie etwas entdeckt hatte, was kein anderer machte.


Bei Queen Of The Rodeo fingen sie mit unbändiger Begeisterung an, auszuprobieren, welche Möglichkeiten sich ihnen durch die Sample-Technik boten. Und die Band selbst war am Verblüfftesten darüber, was mit dieser experimentellen Soundform möglich war und welche Wege sich ihnen eröffneten. Die Begeisterung darüber war wirklich groß. Durch die Anreicherung mit diesem neuen Element erhielt die Musik eine außergewöhnliche Atmosphäre und einen ganz eigenen Ausdruck.

Nigel Degray, Hanzy Nischwitz
Nigel Degray, Hanzy Nischwitz
Humphy Sabothe, Tom Petersen
Humphy Sabothe, Tom Petersen

Marquee Moon waren damit in musikalisches Neuland vorgestoßen, das sie nun mit großer Experimentierfreude und spielerischer Unbeschwertheit auszuloten begannen. Es entstand so eine völlig neue Art von Musik, die einzigartig und beispiellos war. Würde man Queen Of The Rodeo heutzutage veröffentlichen, niemand käme auf die Idee, das Stück könne aus den 80er Jahren stammen. Die Songs aus dieser Session sind absolut frisch und zeitlos. Vielleicht fehlte den Protagonisten einfach auch nur der feste Glaube an sich selbst. Möglicherweise war es der größte Fehler der Band, auf diesem Wege nicht weitergegangen zu sein.